Meldung

Stadt Nordhausen empfängt ehemalige Häftlinge im Theater

Montag, 11. April 2005, 19:30 Uhr
Nordhausen (psv) Die Stadt Nordhausen wird heute Abend um 19.30 Uhr im Nordhäuser Theater ehemalige Häftlinge des KZ Mittelbau-Dora empfangen. Anlass ist der 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers am 11. April 1945.

Darüber hinaus ist eine offizielle Delegation der Stadt Antwerpen anwesend. Die Kontakte zwischen Nordhausen und Antwerpen hatten sich in den zurückliegenden Jahren vertieft. Im 2. Weltkrieg wurde Antwerpen von den so genannten Vergeltungswaffen schwer getroffen, die von den Dora-Häftlingen in den Stollen des Konzentrationslager hergestellt werden mussten.

Gemeinsam mit Stadtrat Gilbert Verstraelen und dem ehemaligen belgischen Häftling Leopold Claessens hatten Oberbürgermeisterin Barbara Rinke und Beigeordneter Dietrich Beyse Kränze an einem Gedenkstein am Zugang zum früheren Stollen niedergelegt.

Im Folgenden die Ansprache der Oberbürgermeisterin:

„Für eine kleine Weile mag sich das Leid hinter einem Vorhang verbergen; aber es ist da, es bleibt, und ein kleiner Windstoß weht den Vorhang hinweg, und das große Erschrecken von damals wird plötzlich wieder drohend gegenwärtig. So drohend, so gegenwärtig, dass wir fragen, ob denn das Vergangene wirklich vergangen sei, oder ob wir nicht die Aufgabe, nämlich das Vermächtnis, das uns die Toten hinterließen, noch immer erst zu erfüllen haben, damit wir ihres Leides und ihres Opfers im Frieden und mit einem beruhigten Gewissen gedenken können. Und wir wissen: Soweit haben wir´s noch nicht gebracht; an dieser Stätte ist unser Herz in diesem Augenblick keineswegs mit dem Frieden einer andachtsvollen Trauer ausgefüllt, so dass nichts anderes daneben Platz hätte.“

Dies waren die Worte des deutschen Theologen Martin Niemöller, mit denen er 1962 die Opfer der NS-Herrschaft gewürdigt hat.


Sehr geehrte ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora,
meine sehr geehrten Herren und Damen,

ich begrüße Sie an diesem Abend herzlich in unserem Theater.

Ich habe diese Worte ausgewählt, weil sie authentisch sind, authentischer als alles, was wir als Nachgeborene sagen könnten. Mit Niemöller hat ein Mensch gesprochen, der als aktiver Gegner der Nazi-Herrschaft selbst über viele Jahre das Grauen der Konzentrationslagers durchleben und durchleiden musste. Er hat es durchleben müssen wie so viele von Ihnen, weil er nur eines eingefordert hatte: den Respekt vor der Würde des Menschen.

Was Niemöller damals sagte - vor mehr als 40 Jahren - es gilt auch heute noch.

Neben der Trauer voller Andacht steht noch immer die Notwendigkeit, die vielen Bruchstücke des Erinnerns gerade hier in dieser Stadt wie ein Puzzle zusammenzusetzen, um die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen. ? Die Wahrheit über die Barbarei und das Leid von Dora, die Wahrheit über die Verbindung von Dora in unsere Stadt, die Wahrheit über das Wegsehen und Mitmachen vieler Menschen, aber auch die Wahrheit über versteckte Hilfe und Mitgefühl für die Häftlinge.




Erinnern muss auch immer tätige Auseinandersetzung einschließen.

Der tätigen Auseinadersetzung wird dann die Erkenntnis folgen, die Paul Celan in seiner Todesfuge so eindrücklich als den „Tod als Meister aus Deutschland“ beschreibt. Und ich ergänze: In Nordhausen war seine Werkstatt, seine Todesfabrik. Hier ? in der so genannten „kalten Hölle“ des Kohnsteins - wurden Sie, liebe, verehrte ehemalige Häftlinge, tief unten im Bergmassiv unter unerträglichen grausamen Zuständen gezwungen, ausgerechnet die Waffen herzustellen, die nur wenig später auf die Häuser ihrer Eltern, ihrer Kinder und Freunde niedergingen und unbeschreibbares Leid für Tausende gebracht haben.

In diesem Zusammenhang grüße ich hier besonders unserer Freunde aus Antwerpen, an deren Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung ich im letzten Jahr teilnehmen durfte und die auch heute unter uns weilen.

Ja, dies alles geschah in Nordhausen, in einer Stadt, die noch heute mit Stolz auf die lange Geschichte ihrer freiheitlichen Traditionen verweist Dies zu sagen fällt schwer, es ist das Eingeständnis, das schmerzt. Es bleibt unsere Schande auch nach 60 Jahren.

Das Leben und Sterben in Dora ist heute - nachdem sich am 11. April 1945 die Tore öffneten - mitten in unsere Stadt zurückgekehrt. Es ist durch Sie zurückgekehrt. Es ist jetzt unter uns, weil Sie heute mitten unter uns sind. Dafür bin ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet.

Viele von Ihnen sind vielleicht des letzte Mal an den Ort ihres Leidens zurückgekehrt. Aus vielen Gesprächen weiß ich: Sie fürchten nichts mehr, als dass Ihr Leiden, der Tod Ihrer Kameraden, die vielen Verletzungen Ihrer Würde in Vergessenheit geraten. Sie fürchten, um wieder an Niemöller anzuknüpfen, dass das Vergangene vergeht, im Nebel des Vergessens entschwindet.

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle versichern ? auch Namen aller, die in dieser Stadt Verantwortung tragen - und ich bin mir sicher, auch im Namen der Mehrheit der Menschen, die in dieser Stadt leben: Ihre durchlebte Qual ist uns Mahnung.

Unser Wissen um Ihre Leiden und um das Sterben Ihrer Kameraden werden wir an unsere Kinder weitergeben. Wir werden es immer wieder aussprechen und ansprechen. Wir werden es aufschreiben und wir werden dessen gedenken. Was „Dora“ uns heute aufgibt, ist diese Erinnerung bei den Menschen in unserer Stadt wach zu halten.

Die derzeitige Debatte in unseren Zeitungen, in Gesprächen auf der Straße, am Familientisch zu Hause, bei der Arbeit und in den Schulen bringt neue Erkenntnisse, macht Missverständnisse deutlich, wirkt befreiend durch eine große Offenheit und bringt Eingeständnisse ans Licht. Die Menschen aus unserer Stadt, die jetzt endlich reden wollen, werden mehr. 60 Jahre danach scheint die Zeit gekommen zu sein, wo die Angst zu reden geringer wird und der Wunsch, ein eigenes Zeugnis abzulegen, größer wird. Für diese Debatte gilt vor allem eines, sie läuft spät, aber nicht zu spät. Denn sie läuft zu einer Zeit, in der die Zeitzeugen an dieser Debatte noch aktiv teilhaben und somit die Geschehnisse an die nächste Generation weitergeben können. So wie in der Gedenkstätte jetzt die Lagergrenzen wieder deutlich sichtbar gemacht werden, so wird diese Debatte helfen, ein schicksalhaftes, dunkles aber entscheidendes und deshalb wichtiges Kapitel unserer Stadtgeschichte wieder freizulegen. Das ist gut und es ist befreiend. Ich hoffe, es kann auch Ihnen, liebe, sehr verehrte ehemalige Häftlinge, ein Stück der Angst nehmen, dass eines Tages alles vergessen wird.




Ich bin froh, dass wir 60 Jahre danach noch immer auf der Suche nach der Wahrheit sind und dass die Menschen, die das Ende dieser Debatte fordern, in der Minderheit sind.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
vor wenigen Tagen gedachten wir des 60. Jahrestages der Bombardierung der Stadt Nordhausen. Damals wurde unsere Stadt zu über 75 % zerstört und über 8000 Menschen verloren innerhalb weniger Stunden ihr Leben. Die vielen Menschen, die sich anlässlich dieses Gedenkens versammelt haben, wissen, dass der Ausgangspunkt für diese Ereignisse am 9. November 1938 gelegt wurde. Sie wissen, dass sich dieser Teil der Geschichte nicht wiederholen darf und sie bekannten in großer Übereinstimmung, dass die Naziideologie unter uns keine Chance hat.

Aber wir wissen auch, dass in Deutschland faschistische Parteien wieder hoffähig sind, dass sie Zulauf haben, nicht nur von den Rändern der Gesellschaft und wir alle haben den Auftritt der NPD in Sächsischen Landtag vor Augen. Hier gibt es viele Fragen und leider keine einfachen Antworten. Warum suchen so viele Menschen, insbesondere junge Männer, die Zugehörigkeit zu Gruppen und Horden, wo sie sich den schrecklichen Vereinfachern unterordnen. Was sind wir ihnen schuldig geblieben? Was haben sie nicht erfahren von ihren Eltern und der Schule, von der Gesellschaft?

Wir müssen lernen: gegen das Wegsehen anzugehen, gegen das Schweigen anzugehen, gegen das Verharmlosen anzugehen, gegen das Vergessen anzugehen. Wir müssen lernen, uns jeder Form von Gewalt entgegenzustellen. Und es ist unsere Pflicht, die Erinnerung an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, denen deren Erinnerung nicht aus eigenem Erleben kommen kann. Dabei kommt es darauf an, dass Entsetzliche nicht bloß als theoretisches Wissen zu vermitteln, sondern es für unsere Kinder und Enkelkinder mit dem Herzen erfahrbar zu machen. Und diesen Dienst, liebe ehemalige Häftlinge, haben gerade Sie in den letzten Jahrzehnten immer wieder geleistet. Sie haben immer wieder in den Medien und bei Veranstaltungen in den Schulen Ihre Lebensgeschichte erzählt, haben sich nicht gescheut, das eigentlich Unaussprechbare immer wieder auszusprechen. Für diesen Dienst an unseren Kindern und Enkelkindern möchte ich Ihnen heute ausdrücklich meinen Dank aussprechen. Es ist Ihr großes Verdienst. Unser Ziel muss sein, dem Vergangenen in unserem Inneren Raum zu lassen, damit es wirken kann und das Handeln beeinflusst, „denn „folgenloses Erinnern bleibt billig“, wie es Bundestagspräsident Wolfgang Thierse treffend benannte. Wo wir ermutigen, trösten, zupacken, ein Stück des Wegs mit anderen gehen, werden wir gelingendes Leben erfahren, werden wir mitwirken am Zusammenhalt unserer demokratischen Gesellschaft. Denn dieses Land, meine sehr geehrten Damen und Herren, wird so sein, wie wir es machen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich war tief gerührt, als ich folgenden Satz ihres Kameraden Albert van Hoey gelesen habe: „Der Stadt Nordhausen und ihren Bürgern danken wir, die Überlebenden des KZ Mittelbau-Dora & Kommandos, dass sie die Erinnerung an unsere hier ermordeten Kameraden wach halten. Möge die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora auch in Zukunft ein unverzichtbarer Bestandteil im Leben dieser Stadt sein!“

Ich verneige mich vor Ihnen und Ihren toten Kameraden, denen hier so viel Leid angetan wurde. Ich verneige mich aus Scham, dass es hier in dieser Stadt war, wo Ihnen dies angetan wurde.

Ich verneige mich aus Dankbarkeit, dass Sie heute Abend den Weg in unsere Mitte gefunden haben und diesen Tag mit uns begehen. Dass Sie Nordhausen die Hand ausgestreckt haben, beschämt uns und macht uns froh. Es macht uns froh und zuversichtlich, weil sie uns ein Beispiel geben, dass Versöhnung möglich ist. Das berührt mich auch ganz persönlich tief. Sie verleihen damit ihrem Glauben an das andere Deutschland Ausdruck. Sie vertrauen darauf, dass die Menschen in unserer Stadt die Fähigkeit besitzen, mit unserem gemeinsamen schicksalhaften Erbe behutsam umzugehen, es zu bewahren, nicht zu vergessen und an die kommenden Generationen weiterzugeben.

Ich kann und möchte Ihnen zum Abschluss auch aus tiefstem Herzen und im Namen aller Nordhäuser versichern: Wir wollen zu unserer Verantwortung stehen.“
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