Oberbürgermeister Kai Buchmann gedachte heute vor der Stele der Zerstörung der Stadt Nordhausen vor 75 Jahren. Nie traf unsere Stadt ein so schwerer Schlag wie in diesen beiden Tagen im April vor 75 Jahren. Die Luftangriffe haben das Erscheinungsbild der über tausendjährigen Stadt massiv verändert. Tausende Bürgerinnen und Bürger, Flüchtlinge, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge verloren an diesen zwei Tagen und in der Folge ihr Leben, Angehörige, Haus, Hab und Gut, viele erlitten schwere gesundheitliche Schäden, so Buchmann.
Die Nordhäuserinnen und Nordhäuser, die Flüchtlinge, die Rückkehrer, alle Menschen, die in den Ruinen dieser, unserer Stadt lebten - Sie alle haben diese Stadt nicht aufgeben. Sie alle haben in den Wirren nach der Zerstörung und dem totalen Zusammenbruch der Ordnung eines nicht gänzlich verloren: Mut und Zuversicht. Wenn wir als Nordhäuserinnen und Nordhäuser gemeinsam zusammenstehen und dabei solidarisch, mit Augenmaß und Rationalität, gesundem Menschenverstand und mit Mut sowie der notwendigen Zuversicht handeln, dann können wir auch die derzeitige Situation gemeinsam bewältigen, führt er weiter aus.
Zeitzeugenbericht Dr. Manfred Schröter: Am 3./4. April 1945 in Nordhausen, vor 75 Jahren
Je länger der schreckliche, von den deutschen Nationalsozialisten provozierte II. Weltkrieg dauerte, desto größer wurde die Angst der Deutschen, also auch der Nordhäuser, vor seinem apokalyptischen Finale. Jeder hatte spätestens ab dem Beginn des Jahres 1945 begriffen, dass die schwere endgültige Niederlage Deutschlands kurz bevorstand, und alle fürchteten, dass sich in den letzten Gefechten der fanatischen Nazis auch hier in unserem mitteldeutschen Raum große Gefahren für Leib, Leben und Eigentum der Einheimischen ergeben könnten.
Dr. Manfred Schröter, Bürgermeister a.D. (Foto: Stadtverwaltung Nordhausen)
Schwere Sorgen belasteten also die Familien in dieser Zeit um Ostern 1945. Die meisten der Väter und Söhne mussten schon seit Jahren Soldat sein, viele von ihnen waren bereits gefallen, vermisst, verwundet oder in Kriegsgefangenschaft geraten. Auf den Schultern der Frauen und Mütter in der Heimat lagen zusätzliche Pflichten wie Dienst in Rüstungsbetrieben oder Lazaretten neben den täglichen Mühen um die Beschaffung der überlebenswichtigen Dinge. Lebensmittel, Kleidung und Heizmaterial gab es lange schon nur noch auf Marken, auf Zuteilung oder Bezugscheine. Sie waren sie knapp, doch hungerte bis Ostern 1945 in unserer Stadt noch keiner (hier ist der Hinweis nötig: ganz anders erging es den Häftlingen, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen). Als eine besondere Belastung empfanden die Nordhäuser die seit langem gewohnten, doch immer häufiger gegebenen Fliegeralarme. Sofort nach dem nervig tönendem Sirenen—Heulton hatte jedermann die Straße bzw. die Etagen des Hauses zu räumen und sich sofort in einen Luftschutzraum zu begeben. Die Zugänge für solche besonders stabilisierte Kellerräume bzw. Stollenanlagen waren zur Straße mit dicken Hinweispfeilen markiert. Alarme dieser Art gab es damals mindestens an jedem zweiten Tag bzw. in jeder zweiten Nacht, sie führten zur chronischen Übermüdung und Erschöpfung der Erwachsenen.
In diesen von Angst und allgemeiner Unsicherheit geprägten Wochen des Frühjahrs 1945 war ich zehn Jahre alt. Schulunterricht fand nur noch lückenhaft statt, weil es kaum Lehrkräfte gab. Wir noch naiven Kinder genossen deshalb nach dem harten und strengen Winter die herrlich warmen Frühlingstage. Ich lebte damals behütet in einer Großfamilie. Wir wohnten in einem Drei-Generationen-Haus harmonisch zusammen mit den Großeltern und weiteren nahen Verwandten. Diese Erwachsenen flüsterten immer öfter besorgt heimlich miteinander. In meiner kindlichen Ahnungslosigkeit habe ich damals den Ernst und die Gefahren der Lage kaum begreifen können, obwohl fast täglich große Schwärme feindlicher Flugzeuge unsere Stadt Nordhausen überflogen. Umso größer war der Schock, der mich wie alle anderen Nordhäuser unmittelbar nach dem damaligen Osterfest plötzlich traf.
Am 03. April 1945 endete abrupt meine beschauliche Kindheit. An jenem Nachmittag erschreckte uns einmal mehr das schaurige Sirenengeheul. Ich stand schon auf der Treppe und ermahnte meine Mutter sich bei ihren letzten Küchenhandgriffen zu beeilen, als ein heller Knall meinen Blick nach draußen lenkte. Über dem Petersberg trudelte ein seltsames Rauchzeichen vom Himmel, ein sogenannter Elefantenrüssel", und gleichzeitig begann es laut und nah aus vielen Flugzeugmotoren zu dröhnen. Nun stürzten wir regelrecht die Treppe in die Richtung der Kellergewölbe hinab, suchten atemlos unsere Stammplätze im Luftschutzraum und spürten dann zwanzig Minuten lang den Fußboden unter uns heben und erzittern. Während dieser langen und bangen Minuten füllte sich der Raum mit Explosionsgasen und Staub, es wurde dunkel, das Atmen wurde beschwerlicher. Gleichzeitig setzte sich das Heulen und Pfeifen der niederfallenden Bomben fort und knallten die Explosionen der draußen aufschlagenden Sprengkörper in unsere Ohren. Natürlich hatten wir riesige Angst, von einem dieser schmetternden Riesenhämmer erschlagen oder von Trümmern des Hauses über uns verschüttet zu werden. Einige unserer Frauen jammerten laut und weinten. Draußen krachte es, klirrte und schepperte. Plötzlich hörte der furchtbare Lärm auf, genau so unvermittelt wie er begonnen hatte.
Wir gingen vorsichtig nach oben um die Schäden zu besehen. Einige Fensterscheiben waren zersplittert, auch einige zersprungene Dachziegeln lagen auf dem Gehweg. Jedoch in unserem Wohnviertel (heute: östliche Töpferstraße) standen alle Häuser noch. Trotz des elterlichen Verbotes lief ich um einige Ecken und stand bald an mehreren Stellen kopfschüttelnd vor wirren Haufen aus Gebälk, Steinen und zerschlagenen Einrichtungen. Aufgeregte Menschen riefen sich zu, dass in den lnnenstadtvierteln Brände ausgebrochen seien. Gleichzeitig rüsteten sie sich manche offensichtlich zur Flucht aus den getroffenen Vierteln. Ich sah, wie blutende oder mühsam hinkende, sich gegenseitig stützende Verletzte oder ältere Leute an einigen bereits von Trümmern versperrten Stellen nach Auswegen suchten.
Als es langsam dunkelte, hatte sich von unserer familiären Hausgemeinschaft noch niemand entschlossen seine Wohnung in Richtung Umland zu verlassen. Nur in einem Punkt waren sich alle einig: in den Luftschutzkeller wollten sie aus Angst vor dem verschüttet werden und ersticken müssen nicht wieder gehen! Bereits seit dem Herbst 1944 hatten unsere Männer unter tätiger Hilfe der beiden im Handwerksbetrieb meines Großvaters eingesetzten französischen Kriegsgefangenen nach den Empfehlungen, wie sie in der damals dünn gewordenen Tageszeitung veröffentlicht waren, einen abgedeckten Erdunterstand (Maße: etwa 3 x 2,5 m) gebaut. Dieser war zwar noch nicht ganz fertiggestellt, aber schon benutzbar. Falls getroffen, dann gleich tot - das war die wenig tröstliche Devise. Weil das E-Werk in der Grimmelallee zerstört werden war, gab es keinen Strom mehr für die Stadt - also konnten auch keine Sirenen mehr heulen. Mit den Nachbarn vereinbarte man einen Nachtwachdienst. Für mich blieb die kommende, letzte Nacht in einem richtigen Bett ruhig. Am nächsten Morgen liefen Polizisten und Luftschutzwarte unsere Straße entlang, riefen und schrien: alle schnell in die Keller, es ist wieder Alarm!” Die größte Sorge war, dass die Bombenflieger zurückkamen. Deshalb eilten wir und unsere Hausgenossen in den Garten und zwängten uns nacheinander und dann eng aneinander gepresst hinein in den kleinen feuchten Raum.
Wir waren insgesamt 13 Menschen, darunter zwei Kinder. Und tatsächlich - plötzlich, gegen 09.15 Uhr - brummten wieder Flugzeugmotoren und bald begann es erneut Bomben zu regnen. Im Unterschied zum Vortage gehörte unser Wohn- und Geschäftsviertel nahe am Neumarkt (heute: August-Bebel-Platz) gerade noch zu dem Gebiet, das die Bomber flächenhaft und dicht mit ihren furchtbaren Waffen abdeckten. (unser Haus stand etwa an der Stelle der heutigen EDEKA-Fuchs-Kaufhalle). Die Bomben kannten keine Gnade. Ihr ununterbrochenes orgelndes Pfeifen, das folgende schmetternde Knallen, Krachen und Bersten schalteten mein Gehör aus. Explosionsgase, Staub und Rauch verdunkelten alles und ließen uns kaum Luft zum Atmen. Wahnsinnige Angst hatte uns alle gepackt. Mehrere Frauen unserer Notgemeinschaft verloren ihre Fassung, schrien wirres Zeug. Andere beteten mit Inbrunst zum Herrgott, so auch meine Mutter und Großmutter, die mich zwischen sich nahmen und versuchten mich mit ihren Körpern nach oben hin abzuschirmen. Etwa zwanzig Minuten lang währte diese Apokalypse. Nur langsam begann ich dann wieder etwas zu hören. Für die Erwachsenen gab es eine neue Herausforderung: in der nächsten Umgebung unseres Unterstandes schrie eine Frauenstimme geilend um Hilfe. Unsere Männer suchten und fanden bald zwei Frauen, die eingeklemmt zwischen Balken unseres nach einem Bombentreffer eingestürzten Hinterhauses in einer heiklen Lage waren. Es waren einquartierte uniformierte Luftwaffen- Helferinnen, die den rettenden Weg bis zu unserem Unterstand nicht mehr geschafft hatten. Mit Hilfe unserer Franzosen und zweier Autowinden wurde bis Mittag eine der beiden Mädchen schwerverletzt aus den Trümmern gerettet, die andere Frau war tot.
Ich schaute mich langsam in meiner früher so vertrauten Umgebung um, doch manches war seltsam und anders – quer über unserem Unterstand lag ein herbeigeschleuderter Balken, ganz oben in unserem großen Birnbaum hingen recht verrenkt zwei tote weiße Hühner. Vor unserem Haus, dessen Fenster alle weggefegt worden waren, stand eine zertrümmerte Straßenbahn, und an ihr vorbei hasteten mit verstörten, teils verschmutzten Gesichtern einzeln und in Gruppen mir fremde Menschen. Sie wollten nur noch raus, raus aus ihrer aufs schwerste getroffenen Stadt, ehe die Flieger wiederkommen könnten...
Auch wir sind geflohen. An drei Stellen unseres Viertels schlugen Flammen aus Fenstern oder Dachstühlen. Wasser zum Löschen gab es nicht mehr. Hilfe von außen war wegen der unpassierbar gewordenen Straßen nicht zu erwarten. Wir Iuden die ständig laut jammernde verwundete Hausgenossin mit ihrem u.a. mehrfach gebrochenen Bein auf den einzigen verfügbaren Handwagen, wofür auf einiges Luftschutzgepäck verzichtet werden musste, und verließen auf mühsamen Umwegen die Stadt in Richtung Leimbach. Dort fanden wir am nächsten Morgen sachkundige Hilfe beim Roten Kreuz und bei einer freundlichen und hilfsbereiten Bauernfamilie. Niemals könnte ich den Anblick vergessen, der sich während unserer nächtlichen Flucht in einer Marschpause am Rande der Windlücke bot: über Nordhausen stand eine riesige glutrote Feuerglocke! Der Petri-Kirchturm in ihrer Mitte brannte wie eine Fackel. Von dieser Hölle her trug der Wind die Geräusche von Explosionen und einstürzender Bauwerke über die Felder und es regneten ständig brandschwarze Partikel auf uns herab.
Nach einer Woche, nachdem US-Truppen die Stadt besetzt hatten, kehrten meine Eltern mit mir in die Stadt zurück. Wir waren am Leben geblieben. Aber insgesamt fünf unserer Nordhäuser Angehörigen waren es in diesen beiden Tagen nicht. Unsere Straße war vollständig zertrümmert und abgebrannt. Verloren hatten wir unser Zuhause, alle früheren Sicherheiten und jeden Besitz. Rasch begriffen wir, dass uns nun eine lange Zeit bitterer Not bevorstand. Das wurde über Jahre unsere Realität, auch wenn diese abgemildert wurde durch wohltuende und vielfach erfahrene freundschaftliche und nachbarschaftliche Solidarität.
Ich meine, dass viele Zeitzeugen dieser historischen Katastrophe unserer Heimatstadt bleibenden Schaden an ihrer Seele davongetragen haben. Ich spüre das selbst noch im hohen Alter gelegentlich in Albträumen und langen schlaflosen Nächten.
Der Zeitzeugenbericht als Download:
75. Jahrestag der Zerstörung Nordhausens - Zeitzeugenbericht Dr. Schröter